Ob im Sport oder in der Kunst: Frühförderung ist für viele Eltern ein wichtiges Thema. Am Samstag findet in
Biel ein sportmotorischer Test für die Teilnahme am Frühförderprogramm Talentfit statt. Der sechsjährige Mika Keller aus der Region
bereitet sich darauf vor.
«Ich will Fussball-Goalie werden», sagt der sechsjährige Mika Keller aus der Region. Am Samstag wird er einen
sportmotorischen Test absolvieren, der zeigen soll, ob er sich für das Frühförderprogramm Talentfit im Bereich Sport eignet. Dafür
üben er und sein Vater seit einigen Wochen regelmässig im eigenen Garten. Beim Weitsprung versucht Mika, seinen Rekord jeden Tag zu toppen
und sich so zu steigern. «Ich freue mich sehr auf den Samstag, bin aber auch schon etwas nervös», sagt Mika.
Motivierte Kinder
Talentfit ist ein Förderprogramm für sportlich leistungsfreudige Kinder der Abteilung Sport des Kantons Bern. Während zwei
Jahren sollen die Teilnehmer zweimal wöchentlich an unterschiedlichen Trainings teilnehmen. Dadurch sollen die Kinder die Möglichkeit erhalten,
unterschiedliche Sportarten auszuprobieren und ihre Talente zu entdecken. Die zukünftigen Roger Federers und Lara Guts sollen dadurch bereits in
frühen Jahren entdeckt und gefördert werden.
Das Förderprogramm wird in Biel, Thun und Bern durchgeführt und richtet sich an Kinder aus der
1. Primarklasse. Doch wer teilnehmen will, muss sich erst beweisen. Laut Martin Brin, kantonaler Abteilungsleiter Sport und kantonaler Beauftragter
für Nachwuchsförderung, ist das Angebot nicht für alle Kinder gedacht: «Es ist polysportiv und leistungsorientiert.»
Zur Teilnahme am Förderprogramm
Talentfit muss ein sportmotorischer Test absolviert werden, der die 22 Kinder evaluieren soll, die sich am meisten eignen. Die Auswertung des Tests
erfolgt laut Brin individuell. Das heisst, dass zu den Fähigkeiten im Bereich Kraft, Ausdauer, Koordination und Schnelligkeit auch das Alter des Kindes
und seine bisherigen sportlichen Aktivitäten in die Auswertung miteinbezogen werden. Es gehe darum, diejenigen Kinder zu finden, die sich für das
Förderprogramm am besten eignen.
Einer der wesentlichen Aspekte sei zudem, dass die Kinder Freude am Sport und Motivation zeigen. «Die Kinder sollen
nicht teilnehmen, nur weil die Eltern dies wollen, sondern aus eigenem Interesse», sagt Brin. Um teilzunehmen müssen die Kinder nicht unbedingt Mitglied
eines Vereins sein. Doch kann dies für die Kinder laut Brin Vorteile haben. Für das Programm wird pro Kind eine jährliche Teilnahmegebühr von 350
Franken verlangt. Talentfit ist laut Brin ein ergänzendes Angebot für die Talentförderung: «Der Kanton sieht sich in der Verantwortung, Angebote
für Kinder mit speziellen Bedürfnissen im Sportbereich zu gestalten.»
Frühförderprogramme werden von Kinderpsychologen und Erziehungswissenschaftlern
oftmals kritisch betrachtet, da leistungs orientierte Förderprogramme die Kinder unter Druck stellen können (siehe Interview). Für Mika und seine Familie
steht jedoch fest, dass das Förderprogramm genau das Richtige für ihn ist.
Eine sportliche Familie
Mika ist bereits Mitglied in einem Kindersportverein und nimmt
am Kidsfit-Programm in Biel teil. Schon im Alter von vier Jahren war er Mitglied in einem Fussballklub. Doch das Training hat ihm damals nicht gepasst, denn
er wollte richtig Fussball spielen und keine technischen Übungen machen. «Mika war noch zu jung», sagt seine Mutter. «Er hat sich das Training wie einen lan
gen Fussballmatch vorgestellt.» Doch heute ist er laut seiner Mutter genug alt und wird sich in der nächsten Zeit bei einem weiteren Verein anmelden. Ob es
Fussball, Eishockey oder BMX-Fahren sein wird, ist jedoch noch unklar.
Sowohl Mikas Mutter als auch sein 14-jähriger Bruder sind begeisterte Sportler.
Mit fünf Jahren nahm sein Bruder am Talenteye, dem Vorgängerprogramm von Talentfit, teil. Seither wird er zweimal wöchentlich in Ballett unterrichtet. Da die
Familie den Organisatoren bereits bekannt war, wurde Mika für die Teilnahme am Talentfit angeschrieben. «Er hat sofort zugesagt», sagt seine Mutter. Da Mika
noch nicht genau weiss, für welche Sportart er sich entscheiden soll, ist die Teilnahme bei Talentfit laut der Mutter wie gemacht für ihn. «Er probiert alles
aus», sagt sie. Trampolinspringen, Fussballspielen, BMX-, Scooter- und Skateboardfahren seien seine Lieblingssportarten. «Ich mache ganz viel Sport und bin
gerne draussen», sagt Mika.
Wenn der junge Sportler am Samstag den Test besteht, werden seine Samstage in Zukunft zu intensiven Sporttagen. Am Morgen
würde er im Förderprogramm trainiert werden, der Nachmittag ist für die Pfadi reserviert.
Sportliche Frühforderung: Fluch oder Segen?
Interview mit Joëlle Gut, Bieler Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche (Fachpsychologin FSP)
Talente sollen gefördert werden. Doch wie? Joëlle Gut, Bieler Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, ist kritisch.
Joëlle Gut, wie definieren Sie Talent?
Joëlle Gut: Richtiges Talent ist für mich, in einer Tätigkeit total aufzugehen und diese aus eigenem Interesse und Antrieb fördern zu wollen.
Dies im Gegensatz zu einem Talent, das körperlich vorhanden ist, jedoch vielleicht nicht zu 100 Prozent zu einem passt und es daher nur gemacht wird, weil «ich
ja eigentlich gut bin». Die innere Zufriedenheit und die Ausgeglichenheit zählen für mich. Ein guter Mix zwischen Selbstbestätigung und Antrieb, sich selber zu
motivieren, weil es einfach passt.
Wie sollen sich Eltern verhalten, die glauben, bei ihrem Kind ein besonders ausgeprägtes Talent zu bemerken?
Es ist sicherlich interessant, dem Kind die Chance zu geben, dieses Talent ausüben zu können. Die Eltern können einen Antriebsschub geben,
indem sie mit dem Kind verschiedene Angebote anschauen gehen und es diese ausprobieren lassen. Wir könnten auch darauf vertrauen, dass jedes Kind seinen eigenen
Weg geht und seine Talente vielleicht auch später noch richtig entdeckt, wenn es sie im Kindesalter nicht nützen möchte.
Würden Sie die Teilnahme bei Talentfit als positiv oder negativ für die Kindesentwicklung einstufen?
Generell unterstütze ich die Meinung, dass Bewegung und dadurch auch die Entwicklung der Grob- und gegebenenfalls Feinmotorik sehr wichtig
sind für die Entwicklung eines Kindes. Nur leider werden ja in diesem Programm nur die Besten der Besten – 22 Kinder – ausselektioniert. Also werden diese
gefördert, die sich bereits viel und oft bewegen. Das Messen von Erstklässlern bezüglich ihrer allgemeinen Sportlichkeit über viele Disziplinen könnte unter
Umständen bei einem Kind bereits in dieser jungen Alterskategorie einen grossen Druck aufbauen.
Dann könnte das Förderprogramm negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung haben?
Die Frage ist, ob dieser Leistungsdruck auf sportlicher Ebene für die psychische Entwicklung sinnvoll ist. Es gibt Kinder, die sind von Geburt
aus stressresistent – in der Psychologie spricht man auch von Resilienz. Bei diesen steht dann mehr die Aktivität im Vordergrund als die Leistung. Und es gibt
andere Kinder, die lieben diese Challenge, dieses Sich-Messen an anderen und streben zielorientiert voran mit der Motivation, der Beste zu sein oder zu werden.
Schliesslich ist es die Entscheidung jedes Elternteils oder Erziehungsberechtigten, welche Aktivitäten den Charakter formen.
Wann ist es Ihrer Meinung nach sinnvoll, Kinder im Alter von sechs Jahren sportlich zu fördern?
Wenn das Kind sich von sich aus gerne sportlich betätigt und eine Aktivität findet, welche zu ihm passt und ihm vor allem Spass bringt. Aus
kinderpsychologischer Sicht ist es für mich fraglich, ob die Kinder sich bereits in diesen Jahren so mit anderen messen müssen oder wollen und was dies ihnen
bringt.
Welche Risiken gibt es bei sportlicher Frühförderung?
Der Druck könnte zu gross werden, Frust, nicht zu genügen, könnte entstehen, der Selbstwert könnte dementsprechend sinken im Sinne von «ich
genüge nicht», und vielleicht auch die Freude an der Bewegung.
Welche Folgen kann ein sportmotorischer Test für die Kinder haben?
Die Leistung steht im Vordergrund, nicht der Spass an der Bewegung und der Teamgeist. Die Kinder lernen dadurch ihr Bestes zu geben, aber auch,
dass ihre körperliche Leistung unter Umständen nicht genügt. Die gut abschneidenden Kinder werden im Selbstwert gefördert, die Durchfallenden könnten es persönlich
nehmen und gekränkt sein, oder aber eine Kämpfernatur sein und nicht aufgeben.
Wie wird sich ein Kind fühlen, wenn es beim sportmotorischen Test durchfällt?
Dies ist ganz individuell und hängt von den Bewertungsmechanismen der Kinder ab. Die Kinder könnten das Durchfallen als äusseren Umstand
einordnen – der Test war zu schwierig – oder diesen generell abwerten – es interessiert mich gar nicht – oder aber den inneren eigenen Umständen – zum Beispiel:
Ich bin einfach zu schwach, zu unfähig. Je nach Attributionsstil wird es dem Kind mehr oder weniger bis gar nicht schaden.
Könnte Talentfit zur Chancengleichheit zwischen Unter- Mittel- und Oberschicht beim Zugang zu Förderprogrammen beitragen?
Ja, ich denke, die Durchmischung könnte gelingen. Doch ist es fraglich, ob Personen aus der Unterschicht 350 Franken bezahlen könnten.
Info: Mehr Informationen zur psychologischen Beratung für Kinder und Jugendliche finden Sie unter www.psychotherapie-be.ch
Quelle: Bieler Tagblatt / Autorin: Hannah Frei 21 juni 2017