Die Aussicht, dass die eigenen Kinder bald ausziehen, wühlt Eltern auf. Wie wird der
Alltag ohne Kind sein? Wie werden meine Kinder klarkommen? Wie können wir
unsere Kinder loslassen? Wie das Loslassen leichter fällt und sich Ängste abbauen
lassen, weiss die Fachpsychologin für Psychotherapie, Joëlle Gut- Lützelschwab aus
Biel.
Frau Gut-Lützelschwab, im August beginnen viele Jugendliche eine Lehre, im
September starten andere ins erste Studien-Semester. Für einen Grossteil
dieser Jugendlichen steht mit dem Ausbildungsbeginn auch ein Auszug aus
dem Elternhaus an. Doch vielen Eltern fällt es nicht leicht, Kinder loszulassen.
Joëlle Gut-Lützelschwab:
Ja, das ist verständlich. Schliesslich ist der Auszug ein
Wendepunkt im Leben der Familie. Das geliebte Kind nicht mehr täglich um sich zu
haben, muss erst verkraftet werden. Wenn der Ablösungsprozess allerdings bereits
während der pubertären Phase schrittweise vollzogen wurde, fällt das Loslassen
meist beiden Seiten leichter. Der Auszug des Kindes ist dann nur noch eine logische
Konsequenz, also ein weiterer Schritt in der Autonomie-Entwicklung des
Jugendlichen.
Kinder loslassen lernen heisst dem Kind früh Eigenständigkeit zu gestatten.
Dann wird es auch beim Auszug leichter. Was kann Eltern den Auszug ihres
Kindes ausserdem erleichtern?
Viele Eltern und Jugendlichen empfinden das Loslassen als weniger schwierig, wenn
sie nicht gerade mit dem Beginn der Lehre oder des Studiums zeitlich zusammenfällt.
Bleiben die Kinder noch eine Weile zu Hause wohnen, können die Eltern den
Ausbildungsbeginn mit verfolgen und begleiten. Das kann auch für die Jugendlichen
vorteilhaft sein: Sie geniessen in dieser aufregenden Zeit noch den Rückhalt der
Familie.
Welche Ängste bewegen Eltern, wenn das Kinder ausziehen?
Die grösste Angst vieler Eltern, die beim Loslassen Probleme haben, ist, dass ihr
Kind den neuen Herausforderungen nicht gewachsen sein könnte. Schafft es der
Jugendliche oder junge Erwachsene, alleine zu wohnen, den Alltag selbstständig zu
meistern und die Ausbildungsanforderungen zu erfüllen? Besonders grosse Sorgen
machen sich Eltern, wenn sie fürchten, dass ihr Kind süchtig nach Handy, Alkohol,
Nikotin oder anderen Drogen ist.
Was raten Sie diesen Eltern?
Für Eltern, die sich um die Selbstständigkeit ihres Kindes sorgen, ist es besonders
wichtig, nach dem Auszug einen guten und regelmässigen Kontakt zu halten. So
können sie ihr Kind zum Beispiel einmal die Woche zum Mittagessen oder
Abendessen einladen, um zu sehen und nachzuhören, wie es dem Jugendlichen
geht und diesem gegebenenfalls Support bieten zu können. Scheinen sich die
Befürchtungen zu bestätigen, sollten Eltern sie offen ansprechen und die Reaktion
des Jugendlichen abwarten. Wenn dann kein konstruktives Gespräch zustande
kommt, rate ich Eltern, eine gemeinsame systemische Familiensitzung bei einem
lizenzierten Psychotherapeuten zu organisieren. So können sie mit professioneller
Hilfe die Bedenken äussern. Manchmal entsteht daraus eine professionelle
Begleitung des Jugendlichen ohne die Eltern.
Sicher macht Eltern auch die Vorstellung des «leeren Nestes» zu schaffen. Um
wen oder was sollen sie sich jetzt kümmern?
Um sich selbst! (lacht). Es ist gut, wenn Eltern sich bereits während der Kinderphase
selber nicht aus den Augen verlieren! Eltern sollten die eigenen Hobbys, Interessen,
Freunde weiter pflegen, den Job weiter ausüben und nicht das eigene Leben prioritär
hinter das der Kinder stellen. Dann fällt das Kinder Loslassen leichter!
Und wenn sie doch in ein Loch fallen?
Wenn die Leere aktuell da ist, raten wir Psychologen betroffenen Eltern, unbedingt
ein neues Hobby zu suchen oder ein altes wieder aufzunehmen, sich mit
Freund(inn)en zu treffen, sich selber etwas zu gönnen, aber auch die frei gewordene
Zeit zu nutzen, um die Paarbeziehung wieder zu intensivieren. Oft lassen sich in der
Ehe oder Partnerschaft neue Dimensionen entdecken, da schlicht mehr Zeit und
häufig auch Energie vorhanden sind. Ein kinderloses Zuhause bietet erneut
Möglichkeiten, sich selber in der Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Nicht wenige
Eltern leisten in dieser Zeit Freiwilligenarbeit oder engagieren sich für neue Projekte.
Wann brauchen Eltern, die ihre Kinder nicht loslassen können, Hilfe von
aussen?
Wenn die Traurigkeit so stark ist, dass jegliche Freude fehlt, dann kann von einem
Empty Nest Syndrom (ENS) ausgegangen werden. Der Auszug hat eine Depression
ausgelöst. In diesem Falle sollten Eltern nicht zögern, einen Psychologen oder eine
Psychologin aufzusuchen, um sich dabei helfen zu lassen, aus der Traurigkeit und
Hoffnungslosigkeit wieder herauszufinden, konstruktiv loszulassen und dem
Lebensabschnitt einen neuen Impuls zu geben.
Vielleicht erkennen Eltern dann, dass ihnen die räumliche Trennung vom Kind
auch gut tun kann …
Ja! Die räumliche Trennung und das Loslassen bieten vor allem in belasteten Eltern-
Kind-Situationen eine gute Möglichkeit, Abstand von den vergangenen
Alltagsproblemen zu gewinnen und die eigentliche Beziehung im Fokus zu halten.
Ausserdem kann der Auszug den Jugendlichen stark und selbstständig machen –
darauf können Eltern stolz sein! Toll ist es, wenn Eltern Ihrem Kind vermitteln: «Ich
traue Dir zu, dass Du Deinen Weg (gut) gehen wirst! Wenn Du uns dennoch
brauchst, sind wir für Dich da!».
Quelle: familienleben.ch/... Interview: Sigrid Schulze im Juli 2014