Seit zwei Jahren bestimmt die Pandemie unseren Alltag.
Das hinterlässt Spuren. Warum viele dauernd müde sind – und wie wir
psychisch unbeschadet aus der Krise kommen, verrät die Psychologin.
Joëlle Gut, viele Menschen fühlen sich aufgrund der andauernden Pandemie müde. Warum ist das so?
Joëlle Gut: Wenn das Gehirn Unsicherheit spürt, agiert unser Alarmsystem, die
Amygdala. Diese hilft uns, in Gefahrensituationen schnell zu handeln. Viele
Menschen sind durch die Pandemie und die wiederkehrende negativen
Nachrichten in einer Art Alarmbereitschaft. Dieser Zustand braucht – wie das
Standby eines Geräts – immer etwas Energie und macht müde. Auch die
Ungewissheit erschöpft uns psychisch.
Was kann man dagegen tun?
Wichtig scheint mir, sich eine wöchentliche oder tägliche Alltagsroutine zu
schaffen, die einem etwas Positives gibt. Regelmässige Spaziergänge, Sport zu
Hause oder Tee als Ritual helfen, dem Körper einen Ausgleich zu geben. Solche
Strukturen können auch Sicherheit geben – selbst wenn die Welt draussen
ungewiss ist.
Manche Corona-Prognosen – etwa jene über gefährliche Virusmutationen –
können Ängste auslösen. Wie soll man mit solchen Emotionen umgehen?
Respekt und gesunde Vorsicht sind durchaus sinnvoll, weil sie uns vor
unüberlegten Handlungen schützen. Aber zu viel Angst blockiert und macht uns
irrational, intolerant, handlungsunfähig und kann gar psychisch krank machen,
etwa in Form von Depressionen. Die Bilder in den Medien prägen nicht nur unser
Bewusstsein, sondern dringen vor allem in unser Unterbewusstsein vor. Daher ist
es angemessen, sich dosiert und sachlich mit den Informationen rund um die
Pandemie auseinanderzusetzen. Ich rate meinen Klienten beispielsweise, sich
bewusst nur ein ganz bestimmtes, kurzes Zeitfenster lang mit der Thematik
auseinanderzusetzen – wenn möglich in schriftlicher Form statt mit Bewegtbild.
Dies hilft, eine gesunde Distanz zu wahren.
Ganz generell: Wie gelingt es uns, psychisch unbeschadet wieder aus Krisen
herauszukommen?
Soziale Beziehungen sollten im Rahmen des Möglichen weiterhin gepflegt
werden. Neue Hobbys oder eine Weiterbildung könnten dabei helfen, die aktuelle
Phase nicht als Abwarten zu bewerten, sondern als sinnvolles Nutzen der Zeit.
Wenn die Pandemie als Phase einer inneren Rückkehr und des Besinnens auf die
wichtigen Dinge im Leben betrachtet wird, freut man sich umso mehr, wenn es
wieder möglich sein wird, den Alltag wie vorher zu geniessen – aber eben
bewusster. Eine Psychotherapie kann zusätzlich dabei helfen, den Fokus anders zu
legen und trotz Pandemie wieder eine gewisse Leichtigkeit in den Alltag zu
bringen.
Quelle: Blick / Interview: Dana Liechti 09 Januar 2022