Scheidungen In Biel, Nidau und Grenchen leben schweizweit am meisten Geschiedene. Experten
vermuten einen Zusammenhang mit der ebenfalls hohen Sozialhilfequote in diesen Städten.
«An der Landschaft oder am Klima wird es wohl nicht liegen», sagt Grenchens Stadtpräsident Boris Banga. Die Frage
lautet: Weshalb leben in Biel, Nidau und Grenchen schweizweit am meisten Geschiedene? Das hat die neuste Statistik des Schweizerischen
Städteverbandes ergeben.
Die Stadtpräsidenten von Biel, Nidau und Grenchen kommen alle zum selben Schluss: Es muss am Wohnraum liegen.
«Viele Geschiedene ziehen zu uns», sagt Boris Banga. Biels Stadtpräsident Erich Fehr erklärt: «Wir hatten alle schon einmal mehr Einwohner
als heute. Deshalb hat es noch älteren und somit kleineren und billigeren Wohnraum als andernorts». Er ergänzt: «Das ist attraktiv für
alleinstehende Personen, ob geschieden oder nicht».
Insbesondere Alleinerziehende hätten oft wenig Geld zur Verfügung. Deshalb sei
billiger Wohnraum gefragt, sagt Nidaus Stadtpräsident Adrian Kneubühler. «Und der ist bei uns noch vorhanden.» Kommt dazu: «Alleinerziehende
finden in der Stadt ein grösseres Betreuungsangebot als auf dem Land», sagt Susanne Schwander, Gemeindepräsdientin von Kerzers. Ihre Gemeinde
weist von den grösseren Orten im Seeland die tiefste Scheidungsquote auf (siehe Infobox). Sie sagt dazu: «Wir sind halt immer noch ein Dorf».
Die kulturellen Unterschiede
Nach weiteren möglichen Gründen befragt, zitiert Nidaus Stadtpräsident Adrian Kneubühler den Paartherapeuten Klaus Heer,
der in der «Sonntagszeitung» sagte: «Ich vermute, dass im zweisprachigen Biel eher eine offene Atmosphäre vor herrscht, in der sich Geschiedene
wohler fühlen als in konservativeren Städten». Laut Kneubühler ist die Situation in Nidau angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft ähnlich.
Boris Banga erwähnt den hohen Ausländeranteil von Biel, Nidau und Grenchen. «Ich vermute, dass viele interkulturelle Ehen geschieden werden»,
mutmasst er. «Es ist denkbar, dass sich darunter auch Scheinehen befinden». Auch Joëlle Gut, Paartherapeutin mit Praxis in Biel, Bern und Solothurn,
erwähnt den Aspekt der binationalen Ehen, die es in Biel häufiger als anderswo gebe: «Im Laufe der Ehe können die kulturellen Unterschiede
Schwierigkeiten bereiten».
Scheidung und Sozialhilfe
Einen eher negativen Aspekt spricht Boris Banga an: «Früher hat man von A-Städten gesprochen». Das «A» steht für Arme,
Alte, Alkoholiker, Ausländer, Arbeitslose, die gehäuft in den Städten wohnen würden. Banga vermutet, dass wegen des günstigen Wohnraums viele
Sozialhilfeempfänger in die Region ziehen – die wiederum einen Einfluss auf die Scheidungsstatistik haben könnten. «Das ist ein Problem des
gesamten Jurasüdfusses».
Banga sagt: «Für Sozialhilfeempfänger ist es in der Anonymität der Stadt einfacher als auf dem Land, wo jeder jeden
kennt». Tatsache ist, dass die Statistik von Neuenburg bis Solothurn einen hohen Prozentsatz an geschiedenen Personen aufweist. Eine weitere Tatsache:
Die Top-3-Scheidungsstädte weisen alle ebenfalls hohe Sozialhilfequoten aus. Mit 11,4 Prozent Sozialhilfeempfängern schwingt Biel gar national obenaus.
Im Kanton Bern liegt Nidau mit 10,6 Prozent an zweiter Stelle, der Kantonsdurchschnitt liegt bei 5,11 Prozent. In Grenchen beträgt die Sozialhilfequote
5,6 Prozent und liegt damit über dem Durchschnitt des Kantos Solothurn (mit 3,2 Prozent).
Auch Mario Roncoroni, Co-Leiter der Berner
Schuldenberatung, kann den Zusammenhang zwischen Sozialhilfequote und Scheidungsrate bestätigen. «Scheidung ist ein Faktor, der die Menschen
in die Überschuldung treibt», sagt er. Wird in einem Haushalt mit tiefem Einkommen geschieden, so landeten laut Roncoroni besonders die Frauen oft in
der Armut. Dazu kommt das psychische Element «Oft geht es einem nach einer Scheidung so schlecht, dass man gar nicht merkt, dass man in die Schulden
geraten ist», sagt Roncoroni.
Lukrativ für Anwälte
Ein Argument will Grenchens Stadtpräsident Boris Banga keinesfalls gelten lassen: Den Zusammenhang zwischen einer hohen Scheidungsrate
und einer tiefen Lebensqualität. In einer Umfage der Zeitschrift «Bilanz» belegte Grenchen über mehrere Jahre den oder einen der letzten Plätze. Banga
pflegte darauf zu sagen: «Ich bin viel glücklicher, seit ich geschieden bin». Heute ist er – ebenfalls glücklich – wieder verheiratet. Der ebenfalls
verheiratete Erich Fehr merkt in seinem persönlichen Umfeld nichts von der neusten Statistik: «Vor kurzem hatten wir ein Klassentreffen. Fazit: Null
Geschiedene. Dasselbe gilt auch für das Kaderpersonal in meiner Direktion».
Paartherapeutin Joëlle Gut stellt fest: «In Biel ist die Nachfrage nach
Paartherapien viel geringer als beispielsweise in Bern». Vielleicht liege das daran, dass der gesellschaftliche Druck, eine Ehe aufrechtzuerhalten,
kleiner sei, wenn im Umfeld mehr Geschiedene lebten. Oft kämen direkt Anfragen zur Trennungsberatung. Und das ist meistens der Punkt, wo auch ein
Anwalt eingeschaltet wird.
Nidaus Stadtpräsident Adrian Kneubühler ist Anwalt – allerdings kein Scheidungsanwalt. «Das sollte ich mir nach dieser
Statistik vielleicht nochmals überlegen», sagt er lachend. «Wenn es so viele Scheidungen gibt, könnte das durchaus lukrativ sein».
Quelle: Bieler Tagblatt / Autorin: Andrea Butorin 13 März 2013